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Mädchenschrift
von Özlem Özgül Dündar (D)                         

Begründung der Jury

In diesem Stück wird langsam aufgebaut, gestapelt, ganz langsam zieht dieser Monolog die Zuschauenden in die Welt des heranwachsenden jungen Mädchens hinein.

Der Text ist ohne Interpunktionszeichen und ohne Großbuchstaben geschrieben. Sogar die Schrift selbst, wie das Mädchen um das es sich darin handelt, darf sich nicht größer machen, bleibt zusammengedrückt, obwohl der Inhalt groß ist und eine große Wirkung hat. 

 

Ein Mädchen, eine junge Frau, die sich so klein und zusammengedrückt fühlt, als ob sie in einer kleinen Kiste lebt, als ob sie selbst diese zu kleine Kiste geworden ist, fragt sich, was von ihr übrigbleiben wird, ob sie noch gerettet werden kann. Und, wenn sie von einem Menschen gerettet wird, wie sieht dieser Mensch denn aus?

 

Gedankenexperiment:

Was sehen Sie, wenn Sie an das Wort Mensch denken?

 

Alles hat angefangen, als sie 12 Jahre alt war. Plötzliche Körperveränderung, obwohl sie noch überhaupt keine Lust dazu hat, eine Frau mit Brüsten und allem zu werden. Ihr Körper wird erwachsen, sie aber ist noch immer ein Mädchen von 12. 

 

Und mit dem körperlichen Erwachsenwerden kommen die Ratschläge: man muss hart werden, alles abwehren, sagt ihre Oma, eine harte Schale entwickeln. Sie versucht stark zu sein, fragt sich, ob weiße Mädchen die gleichen Ratschläge bekommen wie sie. 

 

Hat man seinen Körper oder ist man sein Körper? Das ist die Frage. 

Sie hat Brüste und ist groß, für die Außenwelt ist sie erwachsen.  Dann darf man sie auf ‚erwachsene Weise’ betrachten, so scheint es. 

Solche Blicke bleiben kleben, die kann man nicht abschütteln. Blicke und Sätze, die machen, dass sie nicht mehr so gehen kann, wie sie immer gegangen ist, als Kind, als das Kind, das sie in ihrem Inneren immer noch ist. Dieses Betrachten und Belästigen muss sie tragen, die machen alles schwer. 

 

Gedankenexperiment: 

Wissen Sie eigentlich, wie Ihre Blicke haften und kleben? Hat Ihnen das schon mal jemand gesagt? Auch wenn Sie ‚nur‘ gucken...?

 

Was macht man mit solchen Blicken?

 

Was macht sie, mit solchen Blicken, mit dem Glotzen? Was macht sie, wenn sie einfach im Schwimmbad mit ihrer Freundin schwimmen will und dort belästigt, angefasst wird?

Sie muss etwas machen, etwas lernen, was nicht zu ihr passt, womit sie sich eigentlich nicht beschäftigen möchte. Sie ist ja noch ein Kind. 

 

Sie sagt, sie muss einfach lernen „stopp“ zu sagen. Sie will, dass die Welt ein schöner Ort ist, wo sie sie selbst sein kann, wo sie sich nicht klein machen lassen muss 

Eine Liste macht sie, eine Aufgabenliste voller Stoppzeichen, die wir alle kennen und auswendig lernen müssen. 

 

Am Ende hat die junge Frau sich aus ihrem Zusammnengedrücktsein herausgeredet. 

Am Ende ist ihr Monolog eine Anklage geworden. Ein Flugblatt, ohne plakativ zu sein, persönlich und drängend.

Ist sie noch immer das Kind von früher oder hat sie eine harte Schule durchmachen müssen? Ist sie so hart geworden, wie ihre Oma ihr geraten hat? 

 

Die „Mädchenschrift“ muss von der zukünftigen Mädchengeneration auswendig gelernt werden. 

 

In diesem Text hören wir eine Stimme, die wir auf der Bühne nicht oft genug hören. 

Bei diesem Text und nur bei diesem Text habe ich mir beim Lesen gedacht: dieses Stück sollte ich sofort übersetzen und bei mir in der Schule zeigen (ich unterrichte in Amsterdam an einer Schulgemeinschaft, mit Schüler*Innen aus sehr vielen verschiedenen Kulturen) 

Wir hören im Stück also auch eine Perspektive, aus der wir die Welt nicht oft genug betrachten. Ich bin der Meinung, dass dieser Text ganz vielen jungen Frauen und Mädchen Mut machen wird, manche Sachen nicht als gegeben hinzunehmen und stopp sagen zu können. 

Hoffentlich wird der Text auch jungen Männern und Jungs Mut machen, mal darüber nach zu denken, ob eine Frau ihr Körper ist, oder ob sie ihren Körper hat, und besser zu schaue, wer dann wohl in diesem Körper steckt. 

 

Gedankenexperiment: 

Das könnten wir alle übrigens mal versuchen.

Laudatio: Chiara Tissen

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